Filming Science

03.11.2014

Ingenieure als Filmkünstler < zurück

Der wissenschaftliche Film im Geist der Encyclopaedia Cinematographica

Wie kann sich Film der Wissenschaft als Genre annähern, ohne sie zu überhöhen oder ins Fantastische zu wenden? Das Institut für wissenschaftlichen Film hat mit seiner dokumentarischen Film-Enzyklopädie einen in der Filmgeschichte einzigartigen Versuch unternommen sich der Forschung anzudienen.

„Zu den glücklichsten Stunden unseres beruflichen Lebens gehören solche, in denen wir Bewegungsphänomene zum ersten Mal sichtbar machen konnten. Wir erlagen auch als Leute der Wissenschaft oft der Faszination dieser erstmaligen Bilder, besonders wenn es sich um Grundvorgänge des Lebens handelte.“ (Gotthard Wolf, ehemaliger Leiter des IWF)

Es sind Bilder, die uns nach wie vor verblüffen: der Flügelschlag eines Rotschwänzenchens, stehend und schwebend in der Luft, das leichtfüßige Paddeln eines Capybara unter der Wasseroberfläche oder der blitzschnelle Biss einer Puffotter, der die Maus als tödlich lähmt, bevor sie verschlungen wird. 

Über vier Jahrzehnte lang entstanden diese Bewegungsstudien auf Initiative des Instituts für Wissenschaftlichen Film in Göttingen. Der berühmte Verhaltensbiologe Konrad Lorenz mit seinen Graugänsen hat von solchen Aufnahmen profitiert. Ihr genaues Studium hat wohl einen wesentlichen Anteil zu seinem Nobelpreis beigetragen. Von der Biologie über die Ethnologie bis zu den Ingenieurswissenschaften – unterschiedlichsten Disziplinen haben die wissenschaftlichen Filme des IWF einen großen Erkenntniswert erbracht.

Wie war das möglich? Wie wurde das Medium Film konkret in die Forschung eingebunden? Am Anfang stand eine Idee: Der Film sollte zu einem wissenschaftlichen Erkenntnisinstrument erhoben werden. Prüfstein dafür waren die strengen Objektivitätskriterien der Forschung. Aus ihnen wurde ein ästhetisches Paradigma abgeleitet, dem sich die Filmaufnahmen zu beugen hatten. Ein Vorhaben, das hart erkämpft werden musste.

In meinem Film-Essay über die Encyclopaedia Cinematographica möchte ich dem mehrdeutigen Verhältnis der Filmaufnahmen zu ihren Objekten nachgehen und Querverweise zur künstlerischen und dokumentarischen Arbeitsweise heute ziehen. Aus der Sicht des Filmemachens lässt sich dabei eine spannende Entwicklung ablesen: Die „reine Lehre“ des wissenschaftlichen Films hat durch Verzicht und Abstraktion gerade in ihrem Ausschlussverfahren einen ästhetischen Überschuss mitproduziert, der die beabsichtigen Zwecke übertraf – und von den Verantwortlichen im Ansatz sogar geschätzt wurde.

 

Wann darf sich ein Film „wissenschaftlich“ nennen?

Gotthard Wolf, der Gründer des IWF in Göttingen, blickt kritisch auf die Ursprünge des wissenschaftlichen Films in Deutschland zurück. Warum hat es der Film so schwer, in der Wissenschaft akzeptiert zu werden? Wolf sieht das Problem in seinem Wesen begründet: Der Film ist objektive Aufzeichnung, wahrhaftiges Dokument. Zugleich erzeugt er die Illusion von Lebendigkeit. Sein janusköpfiges Gesicht offenbart sich bereits in den kinematographischen Studien der Filmpioniere Marey und Muybridge Ende des19 Jh. Die Aufnahme von Einzelbildern, die Chronophotographie, diente der exakten Analyse von Bewegungsvorgängen. Bei entsprechender Projektion konnte man den Bildern das Laufen lernen, Mensch und Tier wurden scheinbar lebendig. Wolf hadert mit dieser Illusion des „lebenden Bildes“, transportiere es doch eine emotionale Komponente, die den Film in die Gefilde des Jahrmarkts und der Unterhaltung entführe.

Will Film aber wissenschaftlich sein, muss er sich zu einer „wissenschaftlichen Methode“ weiterentwickeln. Der Ingenieur fordert eine „besondere Bemühung um den so genannten „Wirklichkeitsgehalt der Aufnahmen.“ Den Rahmen sollen zunächst inhaltliche und formale Beschränkungen leisten. Im Sinne seiner einstigen Bestimmung darf der Film nur das eine: Bewegung fixieren. Und das optimalerweise in einer einzigen kurzen Sequenz, gedreht mit einer Kameraeinstellung, die den jeweiligen Vorgang als Ganzes abbildet.

Wo zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen es mit den unterschiedlichsten Bewegungsvorgängen zu tun haben, kann der Film zu einem idealen Hilfsmittel werden, um Flüchtiges zu fixieren und sichtbar zu machen. Ein Sammeln und Vergleichen der gewonnenen Sequenzen drängt sich geradezu auf. Die Idee eines „Generalarchivs“ von filmischen „Bewegungspräparaten“ ist geboren.

 

Das methodische Vorgehen der Film-Enzyklopädisten

„Die Enzyklopädie hat der Forschung und der wissenschaftlichen Lehre zu dienen. Als Sammlung filmisch konservierter Grundphänomene kann sie Rohmaterial für die Herstellung didaktisch gestalteter und dem Hochschulunterricht angepasster Lehreinheiten dienen.“

1952 nimmt Gotthard Wolf die Arbeit an seiner wissenschaftlichen Filmenzyklopädie auf, der „Encyclopaedia Cinematographica“. Ihr liegt ein bestimmtes Bauschema zugrunde, das sich aus kleinsten thematischen Einheiten zusammensetzt, vergleichbar mit den Lexikoneinträgen in einem Konversationslexikon, nur dass es sich bei den Einträgen um Bewegungsbilder auf Filmstreifen handelt. Wolf erläutert das Prinzip am Beispiel eines Films über das Leben von Schimpansen, das als solches viel zu umfassend sei, um es wissenschaftlich darzustellen. Besser sei es, thematische Filmeinheiten zu bilden, wie sie bei der Lokomotion, dem Nahrungserwerb, dem Sozial- oder Paarungsverhalten der Tiere zu beobachten sind.

Über die aufzunehmenden Sequenzen entscheidet im Vorfeld ein Gutachtergremium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Neben der Definition der lexikalischen Einheit muss die Versuchsanordnung stimmen. Die Verantwortung für die Aufnahmen vor Ort übernimmt ein Fachwissenschaftler. Er ist Garant dafür, dass unbewusste Täuschungsmöglichkeiten und suggestive Wirkungen der Filme ausbleiben. Deshalb haben die EC-Filme in der Regel auch keinen Tonkommentar, was andererseits stets eine aufwändige schriftliche Begleitpublikation erfordert.

Das Prinzip greift und wird zum Erfolg. Die klar definierten Dokumentationsprinzipien begründen den Siegeszug eines weltumspannenden Projekts. Von Deutschland über Frankreich, die USA bis nach Japan werden nun überall Enzyklopädie-Filme hergestellt. Gotthard Wolf inszeniert sich geradezu als Retter des Films in seiner ursprünglichen, auf Echtheit zielenden Funktion. Verheißt seine Encyclopaedia Cinematographica doch Wirklichkeit statt Illusion, Bildung statt Unterhaltung, eben Wissenschaftsfilm statt Spielfilm.

 

Aufbau und Themen der Encyclopaedia Cinematographica

Die Enzyklopädie umfasst drei Sektionen: Biologie, Ethnologie und die Technischen Wissenschaften. Die ersten beiden E-Filme überhaupt behandeln den Schritt des asiatischen Elefanten und den Galopp des wildlebenden Lamas. In der Folge gewinnt man Anschauungsmaterial zur Fortbewegung von Tieren. Zoologie, vergleichende Verhaltensforschung und Tiermedizin profitieren von der Dokumentationsart in unterschiedlicher Weise. In Verbindung mit dem Mikroskop entstehen Bilder von für das Menschenauge unsichtbaren Vorgängen. Bakterien, Algen, Pilze oder Urtierchen vollführen einen geheimnisvollen Formentanz. Auch Veränderungen menschlicher Zellen, die durch Krankheiten verursacht sind, lassen sich beobachten. 

Bereits in der biologischen Sektion wird offensichtlich, dass das von Wolf so beargwöhnte illusionistische Moment des Films, Bewegung lebendig zu machen, die zentrale Rolle in der wissenschaftlichen Filmarbeit spielt. Über Zeitraffer und Zeitlupe wird Zeit bewusst transformiert und manipuliert, sowohl bei der Aufnahme als auch beim Abspielen der Filme. Der wilde Galopp eines Bisons wird abgebremst. Nun lässt sich genau verfolgen, wann welcher Huf auf der Erde aufsetzt. Langsames Pflanzenwachstum wird dagegen filmisch beschleunigt. So können wir dem Zirbelkraut dabei zusehen, wie es seinem „genetischen Instinkt“ folgend an der Mauer empor rankt.

Um 1900 wurde auf einem Ethnologenkongress beschlossen, alle völkerkundlich wichtigen Bewegungsabläufe zu dokumentieren, um sie der Nachwelt zu erhalten. An diese Tradition will die Film-Enzyklopädie anknüpfen. Und wenn die Herausgeber einen Notaufruf zur Dokumentation untergehender Kulturen absenden, dann stellen sie den Wert des Zeitdokuments noch über das Erkenntnismoment des Films. Die Enzyklopädie soll also nicht nur Lexikon sein, sondern auch Archiv. Dementsprechend wird der Rahmen der Dreharbeiten weiter gefasst. Ton- und Farbaufnahmen kommen hinzu. Man wagt sich an größere Themenkomplexe: Initiationsriten bei den Yatmül in Neuginea, Begräbniszeremonien der Miao in Thailand oder Zauberheilungen der Zulu in Südafrika. 

Aber auch die unbelebte Materie kann, wie die Filme über das Verhalten von Metallen demonstrieren, für den Fachmann „geradezu spannend“ sein. Wie verändert sich ihre Struktur, wenn sie Zug ausgesetzt werden oder äußere Magnetfelder auf sie einwirken? Die EC-Filme geben davon eine visuelle Vorstellung, zum Teil unter Extrembedingungen von Temperaturen bis zu 1200 Grad. Mithilfe der Elektronenmikroskopie gelingt es auch, Bewegungsabläufe in Materialien filmisch zu dokumentieren. Sensibilisiert man die Filmemulsion, so hinterlassen Röntgen- oder Elektronenstrahlen, jenseits des sichtbaren Lichts, ihre Spuren. – Die ständigen Entwicklungssprünge in den Technischen Wissenschaften lassen jedoch erahnen, dass das enzyklopädische Vorhaben unabschließbar ist. So fordert Wolf: „Der Editor muss die Ziele immer weiter stecken. Er fordert, so scheint es, unmögliche Aufnahmen. Doch was sind unmögliche Aufnahmen?“ – Für den wissenschaftlichen Film dürfen sie nicht existieren.

 

Die Film-Enzyklopädie bleibt ein offenes Buch

In über 40 Jahren werden an die 4000 Filmeinheiten von Bewegungsvorgängen belebter und unbelebter Materie hergestellt. 1994 findet das letzte Treffen des Redaktionsausschusses statt. Dann ist mit einmal Schluss. – Woran ist das Projekt gescheitert und was ist geblieben?

In der zweiten Hälfte des 20 Jh. findet eine rasante Entwicklungsbescheunigung in allen Gesellschaftsbereichen statt. Neue Phänomene wie die Umweltverschmutzung oder Globalisierung tauchen auf. Eine Zerreißprobe für den enzyklopädischen Anspruch des Archivs kündigt sich an. Welche Objekte sollen nun genau gefilmt werden, und nach welchen Kriterien? Allein die schiere Menge an Möglichkeiten ist erschlagend. Ein aktuelles Beispiel ist der Bereich Solid State Physics, früher bekannt als Festkörperphysik, wo in unzähligen Laboren weltweit neue Materialien geschaffen werden. Forscher vermessen ihre elektrische Leitfähigkeit, parallel dazu wird über mikroskopische Spezialtechniken der Wandel der Materialeigenschaften verfolgt. Der Drang nach dem optischen Beweis ist nach wie vor ungebrochen. Mit dem Unterschied, dass die Filmtechnik jeweils schon Teil der Versuchsanordnung ist. Ein wissenschaftliches Filmteam von außen wird als Visualisierungshilfe nicht mehr erforderlich.

Natürlich ist es dabei das Medium selbst, das sich gewandelt hat. Der klassische 16 mm Film der EC wird vom Video abgelöst. Es ist einfach zu handhaben, und es kann in Echtzeit Dinge dokumentieren. Unter dem Fluoreszenzmikroskop praktizieren Mikrobiologen zum Beispiel das Live Cell Imaging. So lassen sich Bewegungsvorgänge in der Zelle unmittelbar beobachten, die früher erst im Nachhinein auf dem Filmstreifen sichtbar wurden.

Video ändert durch seine Verfügbarkeit auch die Sehgewohnheiten und -bedürfnisse. Unser Alltag wird permanent von Kameras begleitet. Sie zeigen prinzipiell alles aus multiplen Perspektiven und in jeder Einstellungsgröße. Das Filmformat der Encyclopaedia Cinematographica, das Bewegungsmoment aus dem starren Blickwinkel, wirkt dagegen sperrig und ist zudem meist nur aufgrund seines Beschreibungstextes richtig zu verstehen. Den gewachsenen didaktischen Anforderungen in der Hochschule sind die Filme kaum gewachsen. 

Zum großen Problem wird die Archivierung selbst. In Glanzzeiten wurde das Filmarchiv der EC in etlichen Ländern vollständig geführt. In den letzten Jahren schließt ein Archiv nach dem anderen. Damit wird der Sammlung die Arbeitsgrundlage weitgehend entzogen. Das IWF in Göttingen widmet sich seit Ende der 1990er Jahre anderen Aufgaben. Die Enzyklopädie ist heute eine geschlossene Sammlung. Vielleicht wäre sie gänzlich in Vergessenheit geraten, wäre sie nicht als Kunstobjekt wiederentdeckt worden.

 

Das Filmarchiv im Kunstkontext

2001 inszeniert der Medienkünstler Christoph Keller eine Auswahl von EC-Sequenzen in den Berliner Kunstwerken. Er überspitzt das ursprüngliche Aufnahmeprinzip, indem er kleinste mögliche Bewegungseinheiten isoliert und zu Loops aneinanderreiht. In der Ausstellungshalle präsentiert er diese auf 40 im Raum verteilte Monitoren parallel. So bekommen die Besucher einen exklusiven Einblick ins Archiv bzw. in dessen biologische Sektion: hier ein Elefant, da ein Lama, dort ein Stachelrochen – in endloser Fortbewegung scheinen sie als Perpetua mobilia gegen die Bildschirmgrenzen anzurennen.

Es kommt nicht von ungefähr, dass sich die Enzyklopädie Filme im Kunstkontext wiederfinden. Was ihnen ästhetisch von jeher inhärent war, kann man im Ausstellungsraum erst recht spüren. Frei von wissenschaftlicher Zweckerfüllung wirken die Aufnahmen für sich. Sie lassen Fragen nach den gefilmten Objekten aufkommen und lösen Gefühle aus, die sie als Lebewesen, in deren Verwandtschaft wir uns instinktiv verstehen, auslösen. Im begehbaren Raum mag dies noch intimer, körperlicher und persönlicher erlebt werden. Dort können wir den Bewegungsstudien gegenüber treten, ihnen begegnen. Doch sind es nicht auch die Filmstreifen selbst, die in Form und Inhalt künstlerische Züge tragen? 

Ihre Machart unterliegt der visuellen Beschneidung und Abstraktion, der Bevorzugung von Schwarz-Weiß-Film und der Beschränkung der Bildausschnitte auf eine bestimmte Anzahl und Größe. Zeitlupe oder Zeitraffer sind weitere, bewusst eingesetzte filmästhetische Mittel, um Vorgänge sichtbar zu machen. Dadurch soll die Wahrnehmung auf etwas ganz Bestimmtes gelenkt werden: die elementaren Bewegungsvorgänge in der Natur. – Wahrnehmung zu hinterfragen, zu lenken oder zu irritieren, ist aber auch die Aufgabe der bildenden Kunst. In der Darstellung verzichtet sie auf die klassische Narration, was gleichermaßen für die gefilmten Bewegungsstudien gilt. Sie bilden nur eine Momentaufnahme ab, eine umfassende Erzählung über das Leben von Affen verbieten sie sich jedoch. Wie bei der bildenden Kunst ist der Betrachter auf kontextuelles Wissen angewiesen, will er die Intention und den wissenschaftlichen Nutzen der enzyklopädischen Filme nachvollziehen.

 

Wesen und Wirkung der Bewegungsstudien

Noch spannender wird die ästhetische Analyse bei der Frage nach dem Inhalt der Filme, ihrem künstlerischen Wert. Denn die genormten Aufnahmen überschreiten ihre objektive Zielsetzung. Sie dokumentieren nicht einfach nur Bewegung. Sie sind ideeller Natur, weil sie eine bestimmte Idee vom Tier, von Lebewesen, von lebendiger Natur präsentieren. So wie bei Platon erst jenseits der materiellen Erscheinungen ihre Idee oder ihr Wesen  wahrhaftig zum Vorschein tritt, so wird im Bewegungsfilm das einzelne Ding, vom Elefanten bis zum Eisenkern, zur Idee seiner Gattung transzendiert. Was bleibt und allein zählt, sind die Bewegungsvorgänge, ohne Namen, Individualität und Geschichte. – Beweglichkeit deutet aber immer auch auf Lebendigkeit hin. Die zur Vermessung dokumentierte Mechanik der Bewegungsvorgänge erzählt zugleich vom lebendigen Organismus. Dabei weht der Hauch des Lebens noch in die starren Atome der unbelebten Materie der Salzkristalle und Metalllegierungen hinein. Tatsächlich meinte man in den Bewegungen den ursprünglichen, adäquaten Ausdruck des Lebens auf Film gebannt zu haben. Eine Erkenntnis, die den Betrachter in Erstaunen versetzt:

"Die Forschungsfilme der Encyclopaedia zeigen die zahllosen Bewegungsvorgänge der Natur in einer bisher noch nie gekannten Dynamik und Eindringlichkeit ebenso wie in ihrer faszinierenden Vielfalt. Dem Forschenden können sie eine Fülle von neuem Wissen vermitteln, dem Lernenden stellen sie eine Fundgrube von Unterrichtsmaterial dar, den besinnlichen Betrachter aber können sie zur Ehrfurcht führen." 

In seiner Anpreisung der Forschungsfilme kommt Gerhard Wolf nicht umhin, auch ihre ästhetische Wirkung zu würdigen. Ihre Anschauung führe zu „Besinnlichkeit“ und „Ehrfurcht“ vor dem Leben, wovon die Bewegungsvorgänge zeugen. Diesen Zustand, in den der Betrachter gerät, hat Arthur Schopenhauer in seiner auf Platon fußenden Ästhetik ausgeführt: „Der ästhetische Zustand ist reine Kontemplation, Aufgehn in der Anschauung, Verlieren ins Objekt, Vergessen aller Individualität.“ Für die besinnliche Betrachtung der Filmaufnahmen würde dies im übertragenen Sinne bedeuten, dass sie Augenblicke des ästhetischen Glücks erzeugen. Der eigentliche, wissenschaftliche Zweck gerät für kurze Zeit in Vergessenheit, während die Erfahrung von der Schönheit des Lebens den Betrachter überwältigt, so dass er sich selbst zeitweise vergisst. Der Forscher fällt für einen Moment aus seiner rationalen Rolle heraus. Oder in den Worten Wolfs ausgedrückt:

Zu den glücklichsten Stunden unseres beruflichen Lebens gehören solche, in denen wir Bewegungsphänomene zum ersten Mal sichtbar machen konnten... Oft haben wir erlebt, dass bei der erstmaligen Sichtbarmachung von Phänomenen im Forschungsfilm kühl und rational ausgerichtete Wissenschaftler in Begeisterung ausbrachen.“

 

Resümee der filmästhetischen Analyse

Der wissenschaftliche Film der Encyclopaedia Cinematographica lebt von einem Paradox. Sein objektiver wissenschaftlicher Ansatz zeitigt ebenso unabsehbare wie gewünschte subjektive Wirkungen. Die wissenschaftliche Filmanalyse steht einer Lust am Schauen und Entdecken gegenüber, ja das eine ist mit dem anderen untrennbar verbunden. Zwar entkleidet sich der Forschungsfilm bewusst der Erzählprinzipien seines großen Bruders, des Spielfilms. Er ist kurz, er beschränkt sich auf ein bestimmtes Thema, er versucht emotionslos zu dokumentieren. Er reduziert den Film schließlich auf seine wesentliche Fähigkeit: die Darstellung von Bewegung. Doch zugleich verfährt er in Form und Inhalt ästhetisch, indem er Schönheit hervorbringt und erfahren lässt. 

Das Sichtbarmachen von Phänomenen muss für die wissenschaftlichen Filmautoren ein großer Antrieb gewesen sein. Vielleicht hat der Augenblick des ästhetischen Glücks den wissenschaftlichen Nutzen letztendlich sogar noch übertroffen. Es ist anzunehmen, dass dieser nach der Auswertung der Filme doch recht schnell verblasste – anders als die Filmstreifen selbst, die im Archiv wie in einer verlassenen Bibliothek einer neuen Bestimmung harren. Bereits 1975 lässt sich aus den Worten Gerhard Wolfs eine gewisse Skepsis gegenüber der eigenen Arbeit herauslesen. Auf große wissenschaftliche Fortschritte oder Entdeckungen durch seine Filme baut er nicht. Konstatiert wird lediglich ein allgemeiner Nutzen, der sich fast schon bescheiden ausnimmt: „Wissenschaftler, die der Arbeit der Film-Enzyklopädie nahe stehen, haben diese als eine Art Studium generale bezeichnet, in dem die Idee der Universitas literarum noch lebendig sei.“

Nicht alle Forscher standen der Film-Enzyklopädie nahe, manche werden ihren Sinn sogar bezweifelt haben, den Wert des schönen Scheins gegenüber der wissenschaftlichen Praxis zu bezeugen. Hierin könnte auch der tiefere Grund für das Scheitern der Encyclopaedia Cinematographica gelegen haben. Das Dokumentieren von Bewegungsvorgängen und das damit verbundene ästhetische Erleben wurden unmerklich zum Selbstzweck der Filmarbeit. Wurde das Fixieren von Bewegungsphänomenen am Ende zu einer Art l’art pour l’art des Forschungsfilms? Dann konnte der tatsächliche Nutzen für die Wissenschaft nicht mehr wirklich gerechtfertigt werden.

 

Das ästhetische Vermächtnis der Film-Enzyklopädie

Über den wissenschaftlichen Wert der Film-Enzyklopädie ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Gelänge die Digitalisierung der Filme, könnte man sie der Forschung weltweit online zur Verfügung stellen. Mithilfe der heutigen Analysemethoden ist weiterer Nutzen nicht auszuschließen. Als Kind des 20 Jh. erzählt die Encyclopaedia Cinematographica aber noch weit mehr. Aus ihr spricht die Faszination des Gedankens, die Welt anhand ihrer Bewegungsvorgänge abzubilden und so nach der Essenz des Lebens zu greifen.

Heute werden Körper- und Naturphänomene dagegen in einem viel umfassenderen Sinn wahrgenommen. Die Motilitätsaufzeichnung eines Elefantenschritts sagt nur wenig über ihn aus als Lebewesen. Der wissenschaftliche Film ist hier mit seiner visuellen Grammatik schnell am Ende. Ganz anders der Spielfilm, der von Wolf einst aus wissenschaftlicher Sicht verteufelt wurde. Seine Erzählform lässt sich auf dokumentarische Themen applizieren. Mit Ton, in Farbe und 3D erzählt er vielleicht viel wirklichkeitsnäher vom Leben der Dickhäuter. Filme wie „Mikrokosmos – das Volk der Gräser“, „Der Zug der Vögel“ oder „Unser blauer Planet“ erreichen heute ein Millionenpublikum, weil sie das Leben der Tiere aus einer anthropomorphen Perspektive erzählen. Die Tiere verhalten sich ähnlich wie wir, sie haben auch ähnliche Bedürfnisse. Sie zwitschern, sie heulen, sie klappern, sie sprechen ihre eigenen Sprachen. Haben sie am Ende ein sogar Bewusstsein von sich als Lebewesen? Sie führen ein Leben, von dem sie untereinander „erzählen“. Deshalb ist die Erzählung die stimmigere, reichere Annäherung an das Leben als die alleinige Momentaufnahme einer Bewegung.   

Das filmästhetische Projekt der EC stand der konzeptionellen Methode der Kunst jedenfalls näher als der Kunst des Spielfilms, von dem es sich bewusst absetzte. Heute, wo die Filme als wissenschaftliches Erkenntnismedium ausgedient haben, wird der Blick frei auf ihre ästhetischen Prinzipien. Anders als beabsichtigt, ist das fotografische Abbild im Sinne der EC immer auch ein künstlerisch gestaltetes Bild. Ihre Wirkmächtigkeit entfalten die Bilder durch ihre Abstraktion. In den Bildmarken von Bewegungsvorgängen steckt eine Kraft, die über sie hinausweist und darum auch ein Reiz für den Interpreten, Unvollständiges zu hinterfragen, zu komplettieren und assoziativ auszuschmücken.

Die Idee, Unsichtbares sichtbar zu machen, mithin der Wissenschaft ein Bild zu geben, und die Bescheidenheit, dabei nicht alles erzählen zu wollen, hat das Verhältnis von Film und Wissenschaft ungemein befruchtet. In seiner selbstkritischen Befragung und Beschränkung kann der filmische Ansatz der EC noch heute seine Relevanz behaupten und neue Versuche filmästhetischer Annäherung an die Wissenschaften inspirieren.